Der Winter ist da, das meiste Grünzeug weg, die Rübenzeit hat begonnen. Auch an mir geht das nicht spurlos vorüber, weswegen es hier – und im Gruß aus der Küche beim Standard – in den kommenden zwei Wochen einen Wurzelschwerpunkt geben wird.
Wer der Anleitung unten folgt, kann mit etwas Geduld eine gemeine Steckrübe in ein ganz außergewöhnlich köstliches Gericht verwandeln, das im deutschen Zweisterner Essigbrätlein serviert wird. Das Essigbrätlein ist berühmt für seine innovative Gemüse-Küche, die Steckrüben-Magie ist ein wunderbares Beispiel. Die Wurzel entwickelt bei entsprechender Behandlung komplexe Soja- und Nussnoten und eine fantastische Konsistenz, Kefir, Molke, ein Lindenlaub-Toffee und ein paar rohe Steinpilze und Topinamburscheiben sorgen für enorm befriedigende, spannende, herbstliche und trotzdem frische Aromen. Wer keine Lust auf Lesen hat: einfach ganz hinunter scrollen.
Alle Fotos sind übrigens C: Sternefresser.de

Cook Tank
Ich bin zu dem Rezept gekommen, weil ich vor ein paar Wochen zum Cook Tank#12 in Berlin eingeladen war: die Menschen hinter dem Blog Sternefresser.de laden regelmässig Spitzenköche, Journalisten und Wissenschaftler ein, um einen Tag lang neue Gerichte der Köche zu kosten und zu diskutieren. Das Thema des diesmaligen Treffens: „Brutal Lokal“ – Jäger und Sammler.
Was mir an sämtlichen Umsetzung am besten gefallen hat: das alle Teilnehmer das „lokal“ im Motto zwar für die Zutaten ernst genommen haben, nicht aber für die Techniken. Da wurde fröhlich und höchst erfolgreich von Kochkulturen rund um die Welt geborgt. Wichtigste kulinarische Leitkultur, wie an so vielen Orten gerade: Japan.
Felix Schneider vom Sosein hat mir von seinen verschiedenen hausgemachten Misos erzählt (Erbse!), die Leute vom Einsunternull in Berlin haben eine Art Dashi aus fermentiertem Bärlauch und danach einen Mizu Shingen Mochi serviert, einen japanischen Wasserkuchen; Dylan Watson-Brawn, Spencer Christensen und Christoph Geyler, die kommendes Jahr ihr Restaurant Ernst in Berlin aufsperren werden, haben vor Ort Fische nach der Ike Jime Methode geschlachtet, einem wesentlichen Bestandteil japanischer Fischzubereitungskunst. Sebastian Frank, Steirereck-Veteran und Besitzer des Horvath in Berlin, hat eine rohe Fasanenbrust aufgetischt, die kurz abgeflämt war und nicht nur optisch an Thunfisch erinnert hat.
Viele nette Worte wurden über besondere Lieferanten und deren harte Arbeit gesagt. Köche, Bauern und Viehzüchter sind hier eindeutig ein Team – sehr schön. Und alle haben sie mehr oder weniger explizit die Grundpfeiler japanischer Esskultur und Kochkunst beschworen: Einen fast schon fanatischer Qualitätsanspruch und eine Vorstellung von Saisonalität, die nicht nur zwischen vier Jahreszeiten unterscheidet, sondern bei der jede Woche, jeder Tag andere gerade perfekte Zutaten bietet – sei es aus dem Garten, dem Wald, oder der Restauranteigenen der Reifekammer.
Hier und hier schreiben andere darüber, hier meine kurze Besprechung der Gerichte.
Felix Schneider, Thomas Prosiegel, Sosein, Schwammerlsuppe und Feigenblatt-Eis

Meine nächster Deutschlandtrip geht nach Nürnberg. Neben der Steckrübe waren die Gerichte des Sosein für mich die beiden Highlights des Tages und zwei der besten Speisen, die ich 2016 gegessen habe. Was sicher auch daran liegt, dass ich Pilzen hilflos verfallen bin. Der Herr Schneider hat gleich eine ganze Kiste mit gut über zehn verschiedenen, selbst gesammelten Schwammerln mitgebracht, von relativ gewöhnlichem wie Steinpilze und Totentrompeten über Baumschwämme wie Krause Glucken bis hin zu so interessanten Dingen wie einem winzigen, dafür aber sehr scharfem Täubing – eine spannende Chili-Alternative, weil die Schärfe dann doch anders schmeckt.
Aus all denen hat er dann eine Art Suppe nach Fäviken-Art gemacht: In einer Teekanne hat er noch mehr Pilze, diesmal getrocknet, mit kräftiger Rinds(?)pilzsuppe (jedenfalls wars sehr kollagenhaltig) aufgebrüht und das ganze dann über die jeweils auf den Punkt gegarten frischen PIlze gegossen. Die Pilze hatten alle verschiedene Aromen – von der fleischigen Glucke über den fruchtigen Steinpilz – und Konsistenzen, die Suppe war so aromatisch und abwechsungsreich wie ein wunderschöner Herbstwald. Ein aufregendes, ungewöhnliches, überraschendes, und trotzdem rundum köstliches Gericht – gibt es selten, danke.
Auch des Herrn Schneiders Dessert hat mich umgehauen, und das, obwohl ich Nachspeisen selten toll finde (ganz im Gegensatz zu Pilzgerichten): Feigenblatteis – aus Milch, in der Feigenblätter ziehen durften – mit rohen, dünnen Topinamburscheiben und gehobeltem frittiertem (oder wars getrockneter?) Topinambur. Das Eis hat das Aroma der Feigenblätter abbekommen, mit einer frischen, gemüsigen Chlorophylnote. Der Topinambur hat optisch, haptisch und auch geschmacklich an Kokos erinnert – köstliche, bayrische Exotik.
Dylan Watson und die Ernst-Crew: Apfelspalten
Die Präsentation hätte auch ein Witz über Sternerestaurants sein können: ein Teller mit rohen Apfelspalten und Herbstlaub. Weil sie noch kein fertiges Restaurant haben, servieren sie auch ein nicht fertiges Gericht, leitete Watson seinen Beitrag ein. Die Äpfel – vier verschiedene Sorten – stammten von besonders alten Apfelbäumen, geerntet von besonders bemühten Apfelbauern. Einer der Äpfel war gegart und mit zwei Jahre eingesalzenen Kirschblüten gewürzt, der Rest war roh und unbehandelt.
Watson hat einige Zeit in Japan gearbeitet, was ihn stark beeinflusst hat. Viel mehr Produktzentriert geht denn auch fast nicht. Geschmacklich großes Apfelkino, und als Beginn eines Tasting-Menüs sicher eine feine Sache – für sich allein aber mehr kuratiert als gekocht. Der Teller war auf jeden Fall ein interessanter Denkanstoss: Viele Esser jubeln, wenn Spitzenköche ein Stück nichts außer perfekten, rohen Hummer oder eine üppige Auster voll ihres jodigen Safts servieren – bei rohen Apfelspalten aber geht ein Raunen um die Tische. Warum eigentlich? Hat Apfel nicht das Potential, so großartig wie rohes Krustentier zu schmecken? Ist das bloß eine Frage der Konditionierung? Von Apfel-Überangebots vs. Hummer-Mangels? Oder der bisher großteils lieblosen Apfelzucht? Kann man das ändern? Und will man das überhaupt?
Ich glaube, so etwas funktioniert bei uns noch nicht, aus zwei Gründen. Erstens: die Qualität stimmt bisher meistens nicht. Die japanischen 500-Euro-Melonen sind legendär und zeigen eine Wertschätzung auch für vermeintlich simple Produkte, die es in Europa bisher so nicht gibt. Gleichzeitig ist aber auch die Qualität dieser Früchte – und vieler anderer Lebensmittel – in Japan tatsächlich eine andere und bei uns bisher unerreicht. Zweitens: Japanisches Essen lebt zusätzlich vom Geschirr, auf dem es serviert wird: im Idealfall handgemachte, saisonal abgestimmte Teller mit eigener Geschichte. Das fügt dem simpelsten Gericht eine weitere Dimension hinzu, und ist in Europa erst im Ansatz vorhanden.
Das Laub in der Mitte war dann tatsächlich ein Witz. „Wir haben im Internet gelesen, dass den Leuten zu wenig auf unseren Tellern liegt“, hat der Herr Watson dazu gesagt.
Sebastian Frank, Horvath: Roher Fasan, Kürbis-Topinambur-Kohlgemüse

Die Fasanbrust war zwei Wochen in geräuchertem Schweineschmalz gereift und fantastisch: ein intensiver Geschmack und eine weiche bis cremige Konsistenz, die beide an Thunfisch erinnerten, was sicher von der Optik unterstützt wurde. Nur außen war die Brust kurz mit dem Flammenwerfer behandelt, gut für extra Rauchnoten und ein paar Röstaromen. Die Japaner machen was sehr ähnliches mit roher, sonst sterbenslangweiliger Hühnerbrust. In beiden Fälle gilt: wer es einmal probiert hat, will es nicht mehr anders.
Das Kürbis-Topinambur-Kohlgemüse war mir insgesamt zu kompliziert – so viele Farben, Geschmäcker, Konsistenzen. Das Wort „Streberteller“ wurde mehrmals geflüstert. Das war aber egal, der Star dieses Gerichts war nämlich etwas anderes: eine ein Jahr in Salzteig getrocknete Sellerie-Knolle, die der Herr Frank wie reifen Käse drüber gerieben hat. Das Ding sieht aus wie eine Trüffel vom Mars und schmeckt sensationell: salzig, gemüsig, umamig, nussig – jedenfalls nach viel mehr, als man Sellerie zutrauen würde. Ich habe den Herrn Frank nachher gefragt, ob er die Technik des im Salzteig Trocknens auch schon mit anderen Gemüsen probiert hat. Hat er nicht. Will er anderen überlassen. Ich tu ihm den Gefallen bestimmt einmal.
Wenzel Pankratz, Forsthaus Strelitz, Lammhoden mit Petersilpüree und Trauben

Er habe sich nicht viel dabei gedacht, sondern schlicht genommen, was gerade da und gut war und was daraus gemacht, hat der Herr Pankratz über sein Gericht bei der Präsentation gedacht. Das ist so ziemlich genau das, was ich die allermeiste Zeit gern hätte, wenn ich in ein Restaurant gehe. Zumindest, wenn es mit so viel Liebe und Können zubereitet wird und aus so tollen Zutaten und überraschenden Kombinationen besteht. Die Lammhoden von den hofeigenen Tieren waren cremig auf den Punkt gegart, das Petersilpüree und die Trauben aus dem eigenen Gemüsegarten haben wunderbar miteinander und den Hoden harmoniert, zusammen ergab alles ein erfrischend geradliniges Wohlgühl-Gericht. Dass das Forsthaus Strelitz auch noch zu „97 Prozent Selbstversorger“ ist, wie Pakratz sagt, und dafür erstaunlich günstig, macht es wohl zu einem der besseren kulinarischen Ausflugsziele rund um Berlin.
Micha Schäfer, Nobelhart und Schmutzig, Entenbrust und rote Rübe

Ebenfalls halb Experiment, halb fertiges Gericht: auf jedem Teller lagen zwei unterschiedlich lang gereifte Entenbrüste, um zu sehen, ob es einen Unterschied macht (es macht, finde ich, die ältere war besser). Beide jedenfalls perfekt gebraten mit wunderbar knuspriger Haut („Jetzt essen!“ hat der Herr Schäfer daher auch streng gerufen, als die Diskussion nach dem Anrichten zu lange dauerte) Dazu gabs intensiven, eingekochten roten Rüben Saft und zur Erfrischung eine Scheibe roher roter Rübe. Letztere war eine Zierde ihrer Art, mit erstaunlicher Konsistenz, ähnlich wie ein knackiger Apfel.
Andreas Rieger, Benjamin Klee, Einsunternull, Bärlauchtabak und Geliertes Wasser

Die beiden Herren vom Einsunternull haben Bärlauch genommen, und so wie Tabak behandelt – fermtentiert und getrocknet – und dann mit Hühnerbrühe eine Art Dashi damit gemacht. Witzige gute Idee, geschmacklich fein und interessant, hat aber weniger Eindruck bei mir hinterlassen als etwa die Pilzsuppe. Mag aber auch sein, dass ein weiteres umami-Gericht da einfach wenig Chance hatte.
Für deutlich mehr Aufsehen sorgte ihr Dessert: ein japanischer Mizu Shingen Mochi, der in den USA als Raindrop Cake Karriere gemacht hat. Dafür haben sie Quellwasser aus dem Schwarzwald mit Agar Agar geliert, sodass es gerade einmal seine Form hält. Am Teller wurde es mit Hollundersirup übegossen und mit Holunderkernmehl bestäubt, mit Hilfe eines, was sonst, Holunderholzbesens.
Das Ergebnis sieht sensationell aus, und auch die Konsistenz ist außergewöhnlich: sobald man es in den Mund nimmt, kollabiert die Struktur und das Wasser wird wieder flüssig. Den Geschmack aber, für mich das wichtigste bei jedem Gericht, fand ich ausbaufähig: ein leichter Hollundersirup, sehr erfrischend, aber nicht viel mehr als das. Die Einsuternull-Menschen wollten – und haben – eine Diskussion darüber anregen, ob man in einem Sternerestaurant bloß Wasser servieren kann, wenn man es nur kunstvoll genug zubereiten. Kann man generell auf jeden Fall, finde ich – hier blieb aber für mich der Geschmack auf Kosten von Optik und Geschichte etwas auf der Strecke.
Wie viel Geschichte braucht ein Gericht? Ich bin da simpel gestrickt und finde: im Idealfall keine. Ein wirklich gutes Gericht bewegt, berührt, fordert, macht neugierig, ganz ohne, dass ich als Esser etwas darüber weiß. Und diese Speisen sind es, die ich vor allem essen möchte. Gleichzeitig erhöht Wissen stets den Genuss. Kunst macht mehr Spaß, wenn ich mich mit Kunst auskenne, Häuser sind interessanter, wenn ich von Architektur etwas verstehe, und Essen schmeckt besser (oder schlechter), wenn ich weiß, wie und woraus ein Gericht gemacht wurde.
Die gültige Antwort? Gibts nicht. Muss jedes Restaurant für sich entscheiden. Und jeder Gast muss sich dann aussuchen, wo er hingeht. Glücklicherweise wird niemand zu einem Tasting Menü gezwungen.
Und jetzt endlich das Steckrüberezept
Die Steckrübe ist ein aufwendiges Gericht aus sehr einfachen Zutaten, und trotzdem ganz ohne Hintergrundwissen umwerfend köstlich. Das wichtigste hier ist die Verwandlung, die die Rübe dank langer, niedriger Hitze und anschließender Ruhephase durchmacht: Ihr Inneres wird dunkelbraun und cremig, irgendwo zwischen Avocado, Banane und Butter, und lässt sich leicht auslöffeln – ich empfehle, eine extra Rübe ins Rohr zu schieben, bloß, um sie später gierig aus der Schale zu essen. Eine mindestens 48 Stündige Rastphase nach dem Backen entwickelt den vollen Geschmack.
Der etwas kompliziertere Rest des Rezepts ist – ganz ganz köstliches – Beiwerk, lässt sich aber, sag ich jetzt mal, auch ersetzen – etwa mit Schafsjoghurt statt Kefir, oder leicht saurer Buttermilch statt Molke. (die passt überhaupt gut zu Wurzeln, mehr dazu nächstes Mal). Lassen Sie sich also nicht entmutigen, wenn Sie nicht alle Zutaten (ja, ich spreche von euch, Topinambur-Blüten) oder Lust auf die gesamte Koch-Odysse haben: die Rübe allein ist einen Versuch wert.
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