Was wir über Gluten und Weizen wissen

Die gute Nachricht zuerst: Gluten ist für Sie allerhöchstwahrscheinlich völlig unbedenklich. Wenn Sie nicht täglich mehrere Kilo Brot verschlingen, macht Gluten Sie weder krank noch dick noch müde, es verursacht nicht einmal Blähungen.

Ganz im Gegenteil ist es ein äußerst hochwertiges Lebensmittel. Ziemlich viele Studien haben mittlerweile nachgewiesen, dass es für die allermeisten Menschen keinen medizinischen Grund gibt, glutenfrei zu essen. Außer Sie gehören zu den ungefähr 0,5 bis einem Prozent der Menschheit, das an der seltenen Autoimmunerkrankung Zöliakie, der echten Glutenunverträglichkeit, leidet.

Das hält Millionen von Menschen aber nicht davon ab, es trotzdem zu tun. „Glutenfrei“ ist der derzeit erfolgreichste Ernährungstrend. Ein Drittel aller erwachsenen US-Amerikaner – aus den USA gibt es die besten Zahlen – gibt mittlerweile bei Umfragen an, zu versuchen, auf Gluten zu verzichten (auch wenn viele davon auf Nachfrage nicht wissen, was Gluten ist). Der Umsatz an glutenfreien Produkten hat sich in den vergangenen fünf Jahren verdoppelt. Laut Schätzungen werden in den USA 2016 fast 15 Milliarden Euro damit umgesetzt, schrieb das Magazin New Yorker unlängst. Es gibt mittlerweile Angebote für glutenfreie Reisen, glutenfreie Hochzeiten und glutenfreie Hostien. So gut zieht das Marketingversprechen „glutenfrei“ und so groß ist die Verwirrung bei manchen Konsumenten, dass bereits Wasser als glutenfrei beworben wurde.

Ist das alles bloß Hysterie? Gluten = böse ist zwar schlicht und ergreifend falsch, doch dann wird es leider etwas komplizierter, denn mittlerweile gilt es als ziemlich sicher erwiesen, dass auch nicht an Zöliakie leidende Menschen zwar nicht auf Gluten, aber sehr wohl auf jenes Lebensmittel, das Gluten enthält, mit Beschwerden reagieren können: auf Weizen. Die nicht zöliakiebedingte Weizensensitivität, nach dem englischen Namen kurz NCGS, ist mittlerweile ein anerkanntes Krankheitsbild. Gleichzeitig hat sich die Anzahl der tatsächlich Zöliakiekranken in der westlichen Welt seit den 1950er-Jahren offenbar fast vervierfacht. Laut Untersuchungen von Bluttests von Soldaten aus den 1940ern waren damals nur rund 0,2 bis 0,25 Prozent der Menschen von einer echten Glutenunverträglichkeit betroffen.

Woran liegt das? Warum reagieren offenbar immer mehr Menschen sensibel auf Brot, Gebäck und andere Weizenprodukte? Und was genau im Getreide ist es, das ihnen zusetzt? Restlos geklärt ist dieses Rätsel bisher nicht. Es gibt aber zumindest starke Verdächtige und erste Ansätze, wie das Problem vielleicht gelöst werden könnte.

Eine kurze Geschichte der glutenfreien Ernährung

Während des Großteils der vergangenen 10.000 Jahre – seit Menschen begannen, Weizen anzubauen – waren die Menschen große Fans von Gluten. Es ist jene Proteinverbindung im Weizen, die es möglich macht, daraus luftig-leichtes Brot zu backen. Wenn der Teig gärt und dabei Gase entstehen, ist es das Gluten, das ihm genug Struktur und Kraft gibt, diese Gase nicht entweichen zu lassen, sondern in kleinen Kammern einzufangen. In der Hitze des Ofens dehnen sie sich dann aus und machen gutes Brot elastisch und luftig statt bröckelig und fest.

Wer die wundersame Kraft des Glutens sehen möchte, muss bloß erst ein Pumpernickel- und dann ein frisches Weizenbrot kosten. Die Chinesen nennen es auch den „Weizenmuskel“ und braten und dünsten reines Weizengluten seit Jahrtausenden als Fleischersatz – bei uns ist dieser unter dem weniger poetischen Namen Seitan in Naturkostläden erhältlich. Gluten ist in allen Verwandten des Weizens enthalten – in Ursorten wie Emmer und Einkorn genauso wie in Dinkel. Der Grund, warum wir vor allem mit Brotweizen backen, ist, dass er deutlich mehr davon enthält. Zwischen 80 und 90 Prozent seines Proteingehalts sind Gluten.

Dass es vom Helden aller Bäcker und Brotesser zur meistgehassten Proteinverbindung wurde, verdankt es zu einem guten Teil einer Studie des Gastroenterologen Peter Gibson von der Monash-Universität im australischen Melbourne. In einer Doppelblindstudie mit 34 Patienten, die am Reizdarmsyndrom litten, beobachtete Gibson, dass die Beschwerden der Patienten verschwanden, wenn er sie auf eine glutenfreie Diät setzte, und wiederkamen, sobald sie wieder glutenhaltige Speisen bekamen. Als Gibson seine Ergebnisse im American Journal of Gastroenterology veröffentlichte, warnte er selbst vor voreiligen Schlüssen: Die Patientengruppe sei schlichtweg zu klein gewesen, um verlässliche Daten zu liefern. Trotzdem berichteten Medien auf der ganzen Welt aufgeregt über die Studie. Schon länger war über die gefühlte Zunahme von Nahrungsunverträglichkeiten spekuliert worden. Nun war eine simple Erklärung für ein komplexes Problem gefunden und ein neuer Feind geboren.

Seither konnten in zahlreichen weiteren Studien jedoch keine negativen Auswirkungen von Gluten festgestellt werden. Sie alle erregten aber deutlich weniger öffentliches Aufsehen als Gibsons erste Untersuchung. Gibson selbst stellte in einer Folgestudie fest, dass es wohl eher sogenannte FODMAPs waren, die bei seinen Patienten Beschwerden verursachten: eine bestimmte Art von Kohlehydraten, die in zahlreichen Lebensmitteln vorkommt und bekannt dafür ist, bei Menschen Blähungen zu verursachen. FODMAPs finden sich in Weizen, aber auch in Gemüse wie Karfiol, in Früchten, Milchprodukten oder Honig. Als Gibson seine Patientengruppe auf eine FODMAPs-freie glutenhaltige Diät setzte, wurden und blieben sie beschwerdefrei.

Alles nur Einbildung?

Detlef Schuppan, Direktor des Instituts für Translationale Immunologie an der Gutenberg-Universität in Mainz, ist einer der weltweit führenden Experten für Zöliakie und Weizensensibilität und ein Mann prägnanter, kurzer Antworten. Wenn man ihn fragt, warum so viele Leute plötzlich kein Gluten mehr essen wollen, sagt er schlicht: „Modeerscheinung.“ Auf die Frage „Gibt es tatsächlich immer mehr Menschen, die an NCGS leiden, oder hat sich nur die Wahrnehmung geändert?“ antwortet er: „Wahrscheinlich Letzteres.“ Gleichzeitig hat er maßgeblich dabei geholfen, etwas besser zu verstehen, wieso manche Menschen tatsächlich auf Weizen mit Problemen reagieren. Studien von Schuppan und seinen Kollegen haben gezeigt, dass sogenannte ATIs Entzündungsreaktionen im Darm hervorrufen können und Menschen nachweisbare Antikörper gegen sie bilden. ATIs steht für Alpha-Amylase-Trypsin-Inhibitoren. Es handelt sich um Stoffe, die Weizen und andere Getreidearten als Abwehrmechanismus entwickeln. Sie sollen Insekten und sonstige Fressfeinde davon abhalten, die wertvolle Energie in den Getreidekörnern, die Stärke, zu verspeisen. Wie es scheint, reagieren nicht nur Weizenschädlinge auf sie empfindlich.

Drei bis sechs Prozent der Menschen sollen laut Schätzungen ATIs schlecht vertragen, vor allem dann, wenn sie bereits an einer entzündlichen oder einer chronischen Erkrankung leiden. Dabei sind die Symptome, die sie entwickeln, „vielfältig, aber eher extraintestinal“, wie Schuppan sagt. Meist sind es eher neurologische Beschwerden wie Müdigkeit oder Konzentrationsprobleme, die durch eine ATIs-freie Diät verbessert werden können, aber auch Reizdarmpatienten können davon profitieren. Dass Menschen, die ATIs schlecht vertragen, sich mitunter besser fühlen, wenn sie glutenfrei essen, liegt schlicht daran, dass eine glutenfreie Diät fast automatisch auch ATIs-frei ist.

„Das alles wird aber oft irrsinnig aufgebauscht“, sagt Harald Vogelsang, ein Gastroenterologe am Wiener AKH, der sich mit Getreidesensibilität beschäftigt. „In den USA hat das ein Niveau erreicht, das einfach absurd ist. Beschwerden durch ATIs sind ein Problem einer kleinen Anzahl von Menschen, die gewisse Symptome haben, die sich verbessern, wenn sie keinen Weizen essen.“ Was Betroffene zudem freuen könnte: Es sieht so aus, als würden ATIs erst ab einer gewissen, gar nicht so geringen Menge wirken. Ein bisschen Brot oder Gebäck könnte also auch von sensiblen Menschen vertragen werden. Wer hingegen an Zöliakie, einer echter Glutenunverträglichkeit, leidet, sollte gar keinen Weizen essen.

Wie die ATIs ins Brot kamen

Wissenschaftler versuchen derzeit, herauszufinden, ob moderne Weizensorten mehr ATIs enthalten als solche, die in vergangenen Jahrzehnten angebaut wurden, weil immer resistentere Sorten gezüchtet wurden. Das bisherige, etwas vage Ergebnis: wahrscheinlich nicht.

„In einer kleinen Studie haben wir bisher zwölf moderne Sorten auf ATIs untersucht. Manche enthielten sehr viele, andere fast keine. Dafür finden sich ATIs auch in alten Sorten“, sagt Hermann Bürstmayr, Getreidezuchtexperte an der Universität für Bodenkultur in Wien, der gerade zu ATIs forscht. Gemeinsam mit der Bäckerei Ströck und Kollegen von anderen Universitäten arbeitet er derzeit an einer breit angelegten Studie. Dabei sollen Unterschiede im ATIs-Gehalt und anderer Inhaltsstoffe in verschiedenen Weizensorten und bei Weizenverwandten wie Dinkel, Emmer oder Einkorn untersucht werden.

Bereits jetzt steht zumindest fest, dass sich der Glutengehalt von Weizen in den vergangenen 100 Jahren nicht wesentlich verändert hat. Der größte Unterschied zu alten Sorten, so scheint es, sind weniger die Inhaltsstoffe als die Produktivität und die Art des Wuchses: Sorten aus den 1960ern brachten niedrigere Erträge, dafür mehr Stroh, das damals noch ein wesentliches Zweitprodukt, etwa für die Viehzucht, war. „Wir glauben nicht, dass Menschen wegen neuer Züchtungen sensibler auf Weizen reagieren“, sagt Bürstmayr. „Aber ich will nicht spekulieren. Jetzt brauchen wir erst einmal tragfähige Daten. Ich gehe davon aus, dass wir die in zwei, drei Jahren haben.“

Schuppan und sein Team an der Uni Heidelberg verfolgen derzeit noch einen anderen Ansatz: Sie versuchen, zu klären, ob es einen Unterschied macht, wie das Brot gebacken wurde – also ob eine klassische Sauerteigführung und lange Gärzeiten es besser verträglich machen als eine industrielle Produktion mit Reinzuchthefen und Backhilfen. Gesicherte Ergebnisse aus Studien gibt es dazu bisher nicht, manche Forscher halten den Ansatz aber für plausibel. „Wenn Menschen Probleme mit Weizen haben, sollten sie sich zuerst ansehen, in welcher Form sie ihn essen“, sagt etwa Stephen Jones, Weizenzüchter, Vollkornfan und Direktor des Bread Lab an der Washington State University. „Ist es das ganze Korn in einem langsam und lange fermentierten Brot? Wenn nicht, dann könnte das der Grund sein.“ Andere, wie Gastroenterologe Vogelsang, sind eher skeptisch. „Ich glaube nicht, dass das einen Unterschied macht“, meint er.

Was, wenn es nicht der Weizen ist?

Viele Fragen sind nach wie vor offen. Warum etwa ist Zöliakie, die echte Glutenunverträglichkeit, in den vergangenen 50 Jahren häufiger geworden? Macht es einen Unterschied, ob Weizen als weißes Mehl oder Vollkornmehl konsumiert wird? Wenn es keine wissenschaftlich nachweisbaren Ursachen gibt, warum meinen so viele Menschen, sich besser zu fühlen, wenn sie keinen Weizen mehr essen? Viele Antworten sind möglich. „Wenn ein Mensch seine Ernährung ändert, dann ändert sich immer etwas in seinem Leben“, sagt etwa Vogelsang. „Das wird dann oft als Diäterfolg interpretiert, auch wenn es sehr viele Gründe haben kann. Die Ernährung beeinflusst zum Beispiel immer die Darmflora und wir wissen mittlerweile, dass die einen wesentlichen Einfluss auf immunologische bis hin zu psychologischen Regulationsmechanismen hat.“

Einiges spricht dafür, dass das Problem gar nichts mit Weizen zu tun hat, sondern mit einer generellen Zunahme an Autoimmunerkrankungen und Allergien in der westlichen Welt. Eines der spannendsten Beispiele dafür lieferte die New York Times in einem Artikel über glutenfreie Ernährung 2015: In dem Text wird über die Region Karelien berichtet, die von der russisch-finnischen Grenze in zwei geteilt wird. Auf beiden Seiten der Grenze wird die gleiche Menge an

Weizen gegessen, in beiden Bevölkerungen findet sich jenes Gen, das Zöliakie auslöst, gleich oft, dennoch tritt die Krankheit auf der finnischen Seite fünfmal häufiger auf als auf der russischen. „Was ist der Unterschied?“, fragt der Artikel. „Die russische Seite ist ärmer. Orale Infektionen treten dort häufiger auf. Vielen Finnen sagen, Russisch-Karelien ist so wie Finnland vor 50 Jahren.“ Offensichtlich führen die gleichen Gene in einer keimfreieren Umgebung häufiger zu Autoimmunkrankheiten. „Vielleicht“, endet der Text, „sollten wir aufhören, zu fragen, was mit dem Weizen nicht stimmt, und stattdessen fragen, was mit uns nicht in Ordnung ist.

Warum wir weiterhin Brot essen sollten

Warum nicht einfach aufhören, Weizen und Brot zu essen, solange all diese Fragen nicht restlos geklärt sind? Weil es bisher zwar keine Beweise dafür gibt, dass Weizen für eine größere Gruppe an Menschen schädlich ist, aber sehr viele dafür, dass die meisten Menschen enorm von ihm profitieren.

„Weizen ist eines der Nahrungsmittel mit der höchsten Dichte an Nährstoffen auf diesem Planeten“, sagt Bread-Lab-Direktor Jones. „Er begleitet uns seit 20.000 Jahren, seit 10.000 Jahren bauen wir ihn an und ernten ihn. Und jetzt ist er plötzlich schlecht für uns? Vielleicht sollten Menschen, die Probleme mit ihrer Ernährungsweise haben, ihre gesamte Ernährung anschauen. Wer glaubt, Weizen nicht zu vertragen, aber gerne Brot essen möchte, sollte versuchen, nur echtes Brot zu essen: solches, das aus Vollkornmehl und nicht mehr als vier Zutaten (Mehl, Wasser, Salz, Hefe; Anm.) besteht, mit langen, langsamen Gärzeiten.“

„Brot und Getreide sind ein sehr ausgeglichenes, vollwertiges Nahrungsmittel“, sagt Weizenzüchter Bürstmayr. „Unser gesamtes Agrarsystem ist auf Getreideanbau eingestellt und ich glaube, es ist kein Zufall, dass es für uns so wichtig geworden ist. Es ist sehr gut lagerfähig, was ein großer Vorteil ist in einer Gegend, wo Sie nur ein paar Monate im Jahr frische Produkte haben. Es ist eine sehr konzentrierte Nahrung, höchstens zehn bis zwölf Prozent Wasser, was es sehr leicht zu transportieren macht. Und es schmeckt fantastisch. Gutes Brot ist ein Kulturgut. Jeder, der in der Früh in eine Bäckerei geht, weiß, wovon ich spreche.“

Außerdem sieht es so aus, als würde eines nicht allzu fernen Tages noch mehr als nur das Korn des Weizens nutzbar werden. Wissenschaftler arbeiten derzeit daran, die energiereiche Biomasse Zellulose im Weizenstroh, heute meist noch ein Abfallprodukt, für die Biospriterzeugung zu nutzen. Es gibt bereits erste Erfolge. Dann könnte Weizen als nachwachsender Rohstoff nicht nur die Menschen antreiben, sondern auch viele ihrer Maschinen.

 

Dieser Text ist zuerst im Griffig und Glatt 2/2016 erschienen





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